Lieber lebendig als normal

Basisinformationen für BesucherInnen, die nach dem Betrachten der Ausstellung noch etwas Theoretisches lesen möchten

Ich habe diese Ausstellung gemacht, weil ich finde, daß es nicht nur die eine Normalität geben darf, der alle Menschen passen und der alle Individualität untergeordnet werden soll. Es geht mir nicht darum zu passen, es geht darum zu leben.
Frauen mit "Behinderung"* sind häufig mitleidigen oder abwertenden Blicken ausgesetzt oder solchen, die sie auf ihre "Defekte" reduzieren. Blicken, die danach suchen, wo sie von der Norm abweichen und dies als negativ und anpassungs- und behandlungsbedürftig bewerten. Sei es im medizinischen Bereich, im allgemeinen "Behinderten"-Bild oder, wenn ihre Andersartigkeit sichtbar ist, auf der Straße. Diesem Blick möchte ich etwas entgegen setzen. Ich möchte die Schönheit von Frauen mit "Behinderung" zeigen. Ihre Stärke, ihre Fähigkeiten und ihre Individualität. Ihr Lachen und ihre Wut.
Ich möchte einen Blick entgegen setzen, der nicht nach ihren vermeintlichen "Mängeln" sucht, sondern nach ihrer Persönlichkeit.

Auf den Bildern sind Frauen mit verschiedensten "Behinderungen" und in verschiedenen Situationen zu sehen, ob allein, mit ihren Kindern, mit ihrer Geliebten auf dem Schoß oder voller Wut vor Stufen, die sie am Erreichen vieler Orte hindern,...
Es macht einen Unterschied, ob die "Behinderung" einer Frau sichtbar ist oder nicht. Frauen mit sichtbaren "Behinderungen" kämpfen häufig gegen unzutreffende Fremdbilder an, die sie hilfloser machen, als sie sind. Frauen mit nicht-sichtbarer "Behinderung" müssen in der Regel immer wieder darauf aufmerksam machen, daß sie etwas nicht können oder anders brauchen, weil es ansonsten übergangen und vergessen wird. Beides kann Vor- und Nachteile haben.
Obwohl bei dem Wort "behindert" oft automatisch an RollstuhlfahrerInnen oder blinde Menschen gedacht wird, gibt es sehr viele verschiedene "Behinderungsformen". Nur ein kleiner Teil fährt Rollstuhl oder ist blind.

Einerseits leben Frauen mit "Behinderung" sehr unterschiedlich. Andererseits gibt es Bedingungen, die mehr oder weniger starke Auswirkungen auf alle haben. Frauen mit "Behinderung" sind einer "doppelten Diskriminierung" ausgesetzt, sowohl als Frauen als auch als Menschen mit "Behinderung". Ihr Wort gilt im Durchschnitt (nicht unbedingt im Einzelfall!) weniger. Im Alltag werden sie durch diverse Barrieren behindert, entweder durch bauliche oder technische Barrieren oder durch Barrieren in den Köpfen von Menschen. Ihre Interessen, Bedürfnisse und Notwendigkeiten werden gesellschaftlich weniger beachtet. Sie haben keine starke Lobby.
Ihre Körpergrenzen werden oft nicht gewahrt, sie werden häufiger unerwünscht angefaßt als Männer mit "Behinderung". Sowohl in Situationen von vermeintlichem, unerwünschtem "Helfen", als auch bei drastischeren Erfahrungen.
Ihre Position auf dem Arbeitsmarkt ist doppelt erschwert. Sie leben -im Vergleich zu Männern mit "Behinderung" und zu Frauen und Männern ohne "Behinderung"- unter finanziell angespannteren Bedingungen. Viele haben "behinderungs"-bedingte Sonderkosten, die nur zum Teil von öffentlichen Stellen oder Versicherungen abgefangen werden. Das heißt jedoch nicht, daß alle arm oder arbeitslos wären! Es gibt ein breites Spektrum von beruflichen und gesellschaftlichen Positionen, in denen Frauen mit "Behinderung" leben. Nur ist dies Spektrum im Verhältnis zu den Möglichkeiten, die sie in der männlichen Position und/oder ohne "Behinderung" hätten, deutlich nach unten verschoben. Dies hat jedoch nicht unbedingt mit ihren tatsächlichen Fähigkeiten zu tun. Genauso wenig, wie die Tatsachen, daß über 90% der ProfessorInnen in der BRD Männer sind, bedeutet, daß Frauen weniger klug wären als Männer.
Seit Anfang der 80er Jahre haben sich Frauen mit "Behinderung" zunehmend organisiert und sich zusammen gegen diese Benachteiligungen und für ihre Rechte und mehr Selbstbestimmung engagiert. Sie haben das Thema Frauen mit "Behinderung" immer wieder angesprochen und so in verschiedene Bereiche der Gesellschaft eingebracht.
Außerdem ist es wichtig, im Kopf zu behalten, daß das Leben von Frauen mit "Behinderung" neben der "Behinderung" und den gesellschaftlichen Benachteiligungen noch viele andere Facetten hat.

Ein anderer Punkt, der das Leben vieler Frauen mit "Behinderung" beeinflußt, vor allem derer mit einer sichtbaren "Behinderung", ist, daß sie häufig nicht als (vollwertige) Frauen wahrgenommen werden, sondern als "sexuelle Neutren". Sie werden in erster Linie als "Behinderte" angesehen und nicht oder nur eingeschränkt als attraktive Frau, potentielle Geliebte, Ehefrau oder Lebensgefährtin, als Mutter,... . Lesben mit "Behinderung" schildern beizeiten, daß ihre Geliebten als ihre Schwestern oder Mütter bezeichnet werden. Selbst wenn sie sich küssen oder aus anderen Gründen als Lesben erkannt worden wären, wenn sie "nichtbehindert" wären. Hier kommt zweierlei zusammen: Wie auch nicht-lesbischen Frauen mit "Behinderung" gegenüber, wird ihre Sexualität und ihre Liebesbeziehung ignoriert. Dazu kommt, daß ihre Liebe zu Frauen übersehen und negiert wird, wie es auch Lesben und bisexuelle Frauen ohne "Behinderung" öfter erfahren.

Lesben erleben immer wieder, nicht innerhalb gesellschaftlicher Konventionen zu sein. Sie stehen vor der Entscheidung, entweder versteckt zu leben bzw. unzutreffenderweise als heterosexuell eingeordnet zu werden oder -je nach ihrem jeweiligen Umfeld- mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen, wenn sie sich outen. Je nach Wohnort und danach, wie offen sie leben (können), wissen einige frauenliebende Frauen kaum von Gleichgesinnten in ihrem täglichen Umfeld und leben in dieser Hinsicht mehr oder weniger isoliert. Für Lesben mit "Behinderung" gilt dies doppelt.
Obwohl ca. 10% der Menschen lesbisch oder schwul sind und eine ebenso große Gruppe "behindert", kennen viele Lesben mit "Behinderung" überhaupt keine andere Frau mit ihrer Lebenssituation. Zumindest nicht wissentlich. Sie haben das Gefühl, die einzige zu sein. Um dies zu ändern und um die Kontakt- und Austauschmöglichkeiten unter Lesben mit "Behinderung" zu verbessern, hat sich Mitte der 90er Jahre ein "Krüppel-Lesben-Netzwerk" für den deutschsprachigen Raum gegründet. Kontaktadresse siehe unten.
In dieser Ausstellung sind übrigens ein großer Teil der Frauen Lesben, viele andere sind bisexuell bzw. auf ihre individuelle Weise an Frauen orientiert. Oft kann man das beim Betrachten allein nicht erkennen, genauso wie im wirklichen Leben. Eigentlich ist auch Heterosexualität von außen oft nicht erkennbar. Nur wird meist unhinterfragt davon ausgegangen, daß Frauen heterosexuell veranlagt seien, wenn sie nicht explizit sagen, daß es nicht so ist.

Diese Ausstellung handelt von Frauen mit "Behinderung" und nicht von Männern und Frauen mit "Behinderung". Zwar gelten einige der Aussagen für Männer ebenfalls. Aber es gibt auch Aspekte, die spezifisch für Frauen mit "Behinderung" sind. Unabhängig davon, daß ich verschiedene Männer persönlich gerne mag, möchte ich Frauen zum Mittelpunkt machen. An vielen andern Orten wird mehr Augenmerk auf Männer gelegt als auf Frauen, dem möchte ich etwas entgegen setzen. Männer reden im Durchschnitt länger vor andern als Frauen. Wie in einschlägigen soziologischen Studien nachgelesen werden kann, verfügen Männer noch immer über deutlich mehr Geld als Frauen. (Diese Aussagen beziehen sich ausdrücklich auf den Durchschnitt, nicht auf den Einzelfall!) Das Rehabilitationsrecht ist an einer männlichen Biografie ausgerichtet. Die Führungspositionen in Wirtschaft und Politik haben zum größten Teil Männer inne. Wenn es um Menschen geht, werden oft neben einer überwiegenden Mehrheit von Männern nur eine kleine Minderheit von Frauen aufgeführt, sei es in Büchern über Zeitzeugen geschichtlicher Abschnitte, über Künstler(Innen), Literat(Inn)en, wichtige Personen eines Jahrhunderts, sei es in Ausstellungen zu bestimmten Themen oder Richtungen,... Schauen Sie doch mal selbst beim nächsten Museumsbesuch oder in der Buchhandlung nach, wieviele der Menschen, die aus einer bestimmten Gruppe betrachtet werden, Männer sind und wieviele Frauen!
Der Titel dieser Ausstellung bezieht sich also nicht nur auf das Lebensgefühl, lieber lebendig als normal zu sein, und auf eine "Abweichung" von der Norm, "nichtbehindert" zu sein. Sondern außerdem auf die gesellschaftlichen Normen, heterosexuell und männlich zu sein, von denen oft ausgegangen wird, die privilegiert und in der Regel positiv bewertet werden.

Chancen von Freiheit: Daraus, daß Frauen mit "Behinderung" viele Rollenmodelle (z.B. die klassische Frauenrolle,...) nicht oder nur eingeschränkt zugeordnet werden, kann ein Vorteil gemacht werden. Wenn ich weniger Erwartungen erfüllen soll und mir fertige Rollen nicht zugetraut werden, kann es leichter sein, so zu leben, wie ich will. Und die Freiheit zu haben, selbst zu überlegen, welchen Weg ich nehmen will und diesen Weg zu gestalten.

Vielfalt macht das Leben bunter. Diese Ausstellung ist ein Plädoyer dafür, Normen weiter zu öffnen oder abzuschaffen. Nicht nur Frauen (und Männern) mit "Behinderung" wird mit negativen Vorurteilen und teils auch mit Ablehnung begegnet. Den selben Mechanismen sind auch Menschen ausgesetzt, die auf der Flucht herkommen; solche, die zwar schon immer hier gelebt haben, aber deren Hautfarbe zufällig eine andere ist, als die der Mehrheit; Menschen, die sich nicht in der strikten Aufteilung in zwei Geschlechter wiederfinden etc.
Aber: Warum sollte das Andere minderwertig und das Fremde falsch sein? Warum sollte das Ungewohnte abgewertet werden? Wenn man auf die richtige Weise hinsieht (egal ob mit den Augen oder womit auch immer), sieht man, wie schön Frauen mit "Behinderung" sind. Daß es zum Leben und zum Glücklich-sein nicht nötig ist, in Normen zu passen. Und wie wichtig und bereichernd Vielfalt für eine humane Gesellschaft ist.
Lieber lebendig als normal.




Alle Fotografien und (bis auf das Zitat zu pränataler Diagnostik) alle Texte sind von Kassandra Ruhm. Die Texte geben nicht unbedingt die persönliche Lebenssituation und die Empfindungen der Frau auf dem Bild, neben dem sie stehen, wieder.





Die Fotografin:

Kassandra Ruhm, Künstlerin verschiedenster Richtungen wie Fotografie, Dichtung, Schriftstellerei, Kochen, Malerei und des Lebens. Diplom-Psychologin, in verschiedenen gesellschaftspolitischen Richtungen engagiert, "spätbehindert" und zweifelsohne lebendig. Stolz und überrascht, nun tatsächlich über 30 Jahre alt zu sein.
Seit 1995 regelmäßig Ausstellungen in verschiedenen Städten in der BRD und andern Ländern.
Text-Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften und Büchern.
1996 – 1999 freie Mitarbeiterin der randschau, Zeitschrift für Behindertenpolitik
1999 Erstellung der Fotoausstellung "schrei!", die, wie diese Ausstellung, ausgeliehen werden kann und von Stadt zu Stadt reist.







* Ich setze "Behinderung" in Anführungsstriche, weil ich finde, daß dieser Begriff eigentlich nicht paßt. Er blickt reduziert nur auf die Einschränkungen einer Person. Er übergeht ihre Fähigkeiten, gerade die besonderen Fähigkeiten, die jede "Behinderung" gleichzeitig mit sich bringt. Angebrachter wäre ein Begriff, der die Unterschiedlichkeit und Gleichwertigkeit wiedergibt.

zurück zur Galerie weiter

Urheberrecht lesen